Es ist vollbracht. Und doch auch wieder nicht.

Endlich, nach 438 Prozesstagen und über 5 Jahren Prozess hat der 6. Senat des Oberlandesgerichts München, der Staatsschutzsenat, sein lang ersehntes Urteil im NSU-Prozess gesprochen.

Beate Zschäpe wurde der Mittäterinnenschaft an 10 Morden, 43 versuchten Morden, 2 schweren Sprengstoffanschlägen und 15 Bank- und Raubüberfällen für schuldig befunden und zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Das Gericht bejahte erwartungsgemäß eine «besondere Schwere der Schuld». Das bedeutet, dass Frau Zschäpe – anders als bei «lebenslang» üblich – wahrscheinlich nicht nach 15 Jahren Verbüßung entlassen werden kann.

Die Haftstrafen für die beiden ebenfalls in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten Ralf Wohlleben und André Eminger orientieren sich nicht an den Forderungen der Sitzungsvertreter_innen des Generalbundesanwalts. Ralf Wohlleben erhält zehn Jahre, zwei weniger als gefordert. Eminger bekommt sogar nur 2 Jahre 6 Monate und wird teilweise freigesprochen.

Einschätzung zum NSU-Urteil von Friedrich Burschel

Dass die beiden auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten Holger Gerlach und Carsten Schultze relativ niedrige Haftstrafen, Schultze zudem als Jugendstrafe, erhalten würden, war ebenfalls absehbar. Gerlach, weil ihm – in Anführungszeichen – nur die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zur Last gelegt werden konnte und Schultze, weil er als einziger der Angeklagten voll umfänglich geständig und kooperativ war und zudem tätige Reue zeigte.

Eine zunächst mündliche Urteilsbegründung erfolgt zur Stunde. Für eine schriftliche Urteilsbegründung hätte der Münchener Senat des OLG aufgrund der schieren Dauer des NSU-Prozesses sehr viel Zeit. Prozessbeteiligte aus der Nebenklage rechnen aber mit der schriftlichen Version dessen, was gerade verkündet wird, binnen eines halben Jahres.

Was aber bedeutet das Ende des NSU-Prozesses und das Urteil nun konkret, wie ist es einzuordnen.

Es gehört zur Logik im NSU-Verfahren, dass es den Vorgaben der Bundesanwaltschaft gefolgt ist und folgen musste, weil sonst weiter sehr brisante offene Fragen im Raum stünden und nicht enthüllte «Staatsgeheimnisse» ans Licht hätten kommen können. Das zu verhindern, muss als das höchste Ziel der obersten Anklagebehörde, des Generalbundesanwaltes, betrachtet werden, um die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland zu schützen und eine Staatskrise zu verhindern. Dies ist die genuine Aufgabe der Bundesanwaltschaft als Teil der Exekutive: Dem Bundesjustizministerium weisungsgebunden kann sie als politisches Instrument der Bundesregierung betrachtet werden, welches als Herrin der Ermittlungen auch im NSU-Fall von Anfang an die Richtung und die Tabuzonen derselben bestimmte. Dieses obstruktive Containment der NSU-Ermittlungen gehört zu den schwärenden wunden Punkten des zurückliegenden NSU-Verfahrens.

Zum Mantra der BAW gehört es, von einem isolierten, selbst von der eigenen, der militanten Neonaziszene abgekapselten „Trio“ auszugehen, welches die terroristische Vereinigung NSU ausmachte. Dass die Bundesanwaltschaft auch nach ca. 375 Tagen Beweisaufnahme im Juli vergangenen Jahres an dieser These aus der Anklageschrift festhalten würde, sorgte bei Nebenkläger_innen, ihren Rechtsanwält_innen und Prozessbeobachter_innen für Entsetzen. Denn zweifellos muss, erst recht nach der Beweisaufnahme, zum einen davon ausgegangen werden, dass die allenfalls als Kerntrio zu bezeichnende NSU-Zelle aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zahlreiche Mitwisser_innen, Unterstützer_innen und sehr wahrscheinlich – die wohl furchtbarste Vorstellung – sogar Mittäter_innen gehabt haben muss. Insbesondere die Nebenklageanwältinnen Edith Lunnebach und Seda Başay-Yıldız und der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler haben in ihren Plädoyers im Anschluss an den Schlussvortrag der BAW die dringenden Hinweise auf Helferinnen und Helfer vor Ort herausgearbeitet – und die offensichtliche Weigerung der Ermittlungsbehörden hier zu ermitteln.

Dass dieses Netzwerk engmaschig mit Informant_innen verschiedener bundesdeutscher Inlandsgeheimdienste in mehr oder minder unmittelbarer Nähe zum NSU durchsetzt war, hat der Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer in seinem Schlussvortrag auf schockierende Weise anschaulich gemacht. Seine Power-Point-Präsentation benennt mehr als 40 größtenteils namentlich bekannte V-Leute, das sind Vertrauensleute genannte Spitzel aus der deutschen Nazi-Szene, mit Bezügen zum NSU. Einen Teil der Akten zum V-Personen-Einsatz haben Mitarbeiter_innen des Bundesamtes für Verfassungsschutz und anderer deutscher Geheimdienste mit voller Absicht vernichtet, um unangenehme Fragen zur Verstrickung staatlicher Behörden in den NSU-Komplex zu unterbinden und die Mitverantwortung dieser Stellen am NSU-Terror zu verschleiern. In ihrem fulminanten Plädoyer zeichnete Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens die Entwicklung des NSU und seines Netzwerks im «Untergrund» nach und stellte dieses Wissen dem, was «Sicherheitsbehörden» zu dieser Zeit unternahmen und von den Flüchtigen wussten, gegenüber. Sie kommt zu dem Schluss, Zitat: «dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebenso wenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten». Trotz diesem Wissen hätten die Behörden nicht eingegriffen, um die Verbrechen zu verhindern, die vor ihren Augen vorbereitet und begangen wurden. Im Gegenteil, mehrere Nebenklageanwält_innen wiesen darauf hin, dass ohne staatliche Hilfe etwa über den Thüringer V-Mann Tino Brandt, dem für seine Spitzeldienste 200.000 DM und reichlich Spesen und technischer Support zuteil geworden waren, die dortige Naziszene nicht in der Weise hätte gedeihen können, so dass daraus zunächst der «Thüringer Heimatschutz» und dann eben der NSU haben entstehen können. Warum aber lassen staatliche Stellen derartig monströse Strukturen entstehen? Die Frage nach einem Motiv für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeantwortet, so von der Behrens. Die dargestellten Vorgänge zeigten aber deutlich, «dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht».

Und eine weitere Leerstelle des nun abgeschlossenen Mammutprozesses ist und bleibt der «Institutionelle Rassismus» in den Ermittlungsbehörden, die eben keineswegs, wie ja fast sprichwörtlich verlautbart wird, «in alle Richtungen» ermittelten. Über viele Jahre richtete sich die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaften gegen die Betroffenen des rassistischen Terrors des NSU, die Familien der Ermordeten und die Opfer der verheerenden Bombenanschläge in Köln. Diese strukturelle Weigerung der zuständigen Behörden, in die Richtung rechten Terrors zu ermitteln, haben insbesondere die Nebenklagevertreter_innen Carsten Ilius, Mehmet Daimagüler und Stephan Kuhn in ihren Plädoyers herausgearbeitet. Die stoische Verfolgung, Demütigung und Drangsalierung der Opfer des NSU ist eine bislang ungesühnte Schande, denn das Versprechen von Bundeskanzlerin Merkel am 23. Februar 2012 bei der zentralen Gedenkfeier in Berlin, für «lückenlose Aufklärung» und die Ermittlung und Bestrafung der «Hintermänner» des NSU zu sorgen, ist nicht gehalten worden.

Vielleicht war diese Anforderung, die viele auf das Gerichtsverfahren in München bezogen, von Anfang an ein Missverständnis. Immerhin aber hat Richter Götzl zu Beginn des Verfahrens mehrfach die Engführung des Verfahrens auf das – zweifellos widerlegte – Konstrukt der Drei-Personen-Zelle aufgebrochen. Er hat insbesondere im Falle des Staatsbeamten und Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Andreas Temme, der bei der Ermordung des 21-jährigen Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat – welch Zufall! – am Tatort anwesend war, tief in den hessischen Inlandsgeheimdienst hineingebohrt und Temmes damalige Kolleg_innen bis hinauf zum Behördenleiter als Zeugen vorgeladen. Und auch wenn diese intensiven Befragungen ohne weitere Aufklärung endeten, zeigen sie doch, was in München noch möglich gewesen wäre. Was hätte dagegen gesprochen, den Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Lothar Lingen zu hören, der schon wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 willentlich und wissentlich die Vernichtung der ersten Akten von NSU-Relevanz hat zusammensuchen und vernichten lassen. Bloßgestellt wurde er dann im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, einem der unterdessen 14 Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse – die leider sehr unterschiedlicher Qualität waren und in der öffentlichen Wahrnehmung quasi unter’m Radar flogen.

Dass der Münchener Prozess nun über fünf Jahre ein derart kontinuierliches Interesse der Öffentlichkeit und der Medien genoss lag im Wesentlichen am Trigger Zschäpe, das Interesse an der «Teufelin», der «Terroristin» und der «Frau im bewaffneten Untergrund» sorgte für Klicks und Verkauf. Für die Betroffenen von den NSU-Verbrechen eine der zahlreichen Zumutungen, die die Aufarbeitung des NSU-Terrors für sie bereithält. Für sie wird es – bei aller Kritik am Prozessverlauf und -ergebnis – von hoher symbolischer Bedeutung sein, dass erstmal zumindest die Angeklagten einer angemessenen Verurteilung zugeführt wurden.

Für diejenigen von uns, die an einer offenen und pluralen Gesellschaft der Vielen interessiert sind und an der Wahrung einer humanen Orientierung aber kann das Urteil und das Ende des Prozesses nur ein Zwischenstopp zu lückenloser Aufklärung und Aufarbeitung sein. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass jetzt zur Tagesordnung übergegangen wird und ein Schlussstrich unter den monströsen NSU-Komplex gezogen wird. Nach so langer Zeit und 70 Millionen Euro später sind die wesentlichen und bohrenden Fragen dieses Komplexes nach wie vor unbeantwortet und offen, der Verfassungsschutz geht aus diesem wohl größten Geheimdienstskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte völlig ungeschoren hervor, im Land explodiert rassistische und rechte Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer_innen, Dinge, die zu Beginn des Prozesses und in ihm noch eindeutig als Nazi-Sprech zu identifizieren waren, sind in Rekordzeit wieder in aller Munde und jeglichen Tabus entkleidet und im Bundestag hetzt täglich eine neue völkisch-nationalistische Partei mit weiter erstarkenden außerparlamentarischen Zweigen im organisierten Neofaschismus.

Das Ende des Prozesses kann mithin nur der Beginn eines neuen Kampfes für Menschlichkeit und Vielfalt sein und einer Renaissance antifaschistischen Engagements. Ganz egal, was beim Prozess herausgekommen ist.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors: Friedrich Burschel – Rosa-Luxemburg-Stiftung

Friedrich Burschel ist Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit bei der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Er war akkreditierter Korrespondent für Radio LOTTE Weimar im NSU-Prozess und ist – auch nach dem Urteil: ganu nach dem Motto „Kein Schlussstrich!“ – Mitarbeiter von NSU-Watch (nsu-watch.info). Seine Audio- und Printbeiträge zum Prozess und zum NSU sind auf der RLS-Homepage unter https://www.rosalux.de/dossiers/nsu-komplex/ zu finden.

Foto: Radio LOTTE